Trauma als Kraft

»Nun, da meine Scheune heruntergebrannt ist, kann ich den Mond sehen.« (aus Tibet)

Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht schlug in der prähistorischen Prärie ein Meteorit bei uns ein und wir haben seitdem einen genetischen Defekt. Womöglich hat uns unsere Vernunft um den Verstand gebracht, oder es liegt eben doch am Schulsystem, und der verdammte Politikunterricht hat ein wichtiges Gehirnzentrum lahmgelegt. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat es dazu geführt, dass der Mensch in dieser rätselhaften, problematischen Sturheit darauf beharrt, sich von seinen Wunden und Traumata abzuschneiden, statt sich ihnen zuzuwenden.

Es muss sich darin um ein Missverständnis zu handeln – als verschwände mein Trauma, wenn ich es nur lange genug leugne. Bemerkenswert daran ist auch, dass dieses Verhalten bei Erwachsenen auftritt und nicht bei kleinen Kindern. Die Augen zuzukneifen und zu schreien, etwas seie jetzt nicht mehr da, ist aber wiederum eher ein Spiel für kleine Kinder als für Erwachsene.

Um es kurz zu machen: Wir mögen ja feste die Augen vor ihm verschließen, aber unser Trauma steht weiterhin gut sichtbar in unserem Leben rum, und zwar, wenn wir ehrlich sind, meistens im Weg. Nicht nur leben wir 24/7 mit Angst und Schmerz in unseren Knochen – wir investieren auch noch in die Scham darüber – die Leugnung dessen – plus in die Ablenkung unserer Mitmenschen, die diesen wunden tiefen Punkt in uns nicht ahnen und nicht finden dürfen. Oh ja, unsere Lebenskraft ist weit wie der Ozean. Und gut beschäftigt.

Sollten wir je mit dem Versteckspiel aufhören, werden wir sehen: Hier wandelt keine Menschenseele ohne Wunde. Im Trauma fühlen wir uns verloren und allein, aber das tun wir alle gemeinsam. Kaum zu glauben: Im toten Abgrund der Verzweiflung, Einsamkeit und Kälte ist für Milliarden Platz.

Du wirst mir vielleicht Menschen zeigen wollen, auf die das nicht zuträfe – die sehr glücklich sind, die lieben und tanzen und soviel Leidenschaft dafür haben, zu leben. Ja, all diese Menschen kann ich dir auch zeigen, und noch dazu haufenweise intellektuelle und spirituelle Creme de la Creme (man mag ja kaum glauben, in welche erleuchteten High Society Kreise mein Leben mich gespült hat) und jedenfalls keine und keiner dieser Menschen ist ohne Trauma.

Dieses, was wir alle tragen, alle verschweigen, alle sind, was uns alle fordert, was ist das? Was siehst du dort, wenn du eine heimliche mutige Minute lang in diese Richtung blinzelst?

Du siehst etwas anderes als das, was du befürchtet hast. Du siehst Kraft. Gebundene – aber gebündelte Kraft. Erstarrte – aber konzentrierte Kraft.

Lass dich nicht blenden, Tochter des Lichts, denn dies ist eines deiner kostbarsten Geheimnisse: Erst im Trauma beginnt dein Leben, aufzuwachen. Konzepte zu durchschauen als Konzepte, unter Lügen zu leiden, weil sie lügen, und sich so qualvoll tief nach der Liebe zu sehnen, dass es sie finden kann. So beginnst du, am Altar deiner Wunden zu knien und zu lernen.

In alten schamanischen Initiationen wurden Wunden und Traumata gezielt zugefügt. Die Schülerinnen wurden in Kämpfe geschickt, die sie verloren, und trugen ihr Leben lang diese Narben, denen sie schließlich alles verdankten. Trauma ist der Raum, aus dem die großen Visionen und einige unserer besten Methoden für Heilung geboren wurden, und Trauma wird aufgezählt als eines der buddhistischen Tore zur Erleuchtung. Also lass dich nicht blenden… In diesem Moment deines Todes wurde dir alles gezeigt. Für die Ankunft einer neuen Göttin wurde der Schleier gehoben – Trauma ist eine Privataudienz im Olymp.

Könnte es also sein, dass unsere zivilisierte Trauma-Leugnung nicht auf einem Irrtum beruht oder einem Mangel an Information, sondern unsere eigene Initiation vor uns verbergen soll? – Und sollte dann nicht möglich sein, gemeinsam einen Raum zu schaffen, in dem wir dieses unbedingte Wissen in uns wiederfinden können?

Lasst uns gemeinsam auf die Reise gehen – uns gegenseitig ermutigen, begleiten, anfeuern und auffangen. KALI, die unsterbliche Todesgöttin, weiß, was sie tut. Wir verbrennen, um zu fliegen.